Licht und Schatten stehen als Elemente am Anfang der philosophischen und
künstlerischen Betrachtung der Welt und sie haben im Laufe der Kunstgeschichte
nichts von ihrer metaphorischen Bedeutung verloren.
Ins allgemeine Bewusstsein sind sie durch die minimalistische Zero-Bewegung in Italien,
Frankreich und vor allem in Deutschland durch Piene, Mack und Uecker gerückt worden.
„Die Wahrnehmung minimaler Veränderungen ist für mich Bewegung. Ich möchte
sie sichtbar machen“, sagt Niko Grindler mit dem Wissen, dass Bewegungen eine
innere Einheit haben, die durch unzählige Perzeptionen vorbereitet wird.
Die Künstlerin arbeitet mit den konkreten Bildelementen Fläche, Linie, Raum und der
Immaterialität von Licht und Schatten. Die Linien der seit 1994 entstehenden Bildobjekte
sind Fäden, welche die grafische Arbeit in die Dreidimensionalität transformieren.
Diese gestickten Linien erzeugen ihr subtiles Netzwerk auf drei Ebenen: Über der
Oberfläche, auf dem Papier, als Schatten und auf der Rückseite, wo die für den Betrachter
nicht sichtbare Unterkonstrukion des Fadenverlaufs mit seinen Verknotungen aus Anfang
und Ende markiert wird. Das nuancenreiche Zusammenspiel von Linie, Licht und Schatten
spiegelt den Rhythmus der Zeit.
Die Entmaterialisierung des Bildträgers durch transparentes Plexiglas verleiht in einer
weiteren Serie der Fadenlinie schließlich einen sich auf der Wand reflektierenden
Schwebezustand und ein Mehr an Spiegelungen des realen Raumes.
Zufällig beobachtete Wanderungen von Licht- und Schattenzeichen, die sich durch die
barocken Fenster an den Wänden der Ausstellungsräume des Schlosses abbildeten, wurden
fotografisch manifest, um wiederum Basis für Fadenkonstrukte und lebendiges Lichtspiel
zu werden. Der Arbeitsprozess ist ein wesentlicher Teil des Werkes.
Niko Grindler arbeitet aus der Stille für eine Wahrnehmung in der Stille.

Dr. Otto Rothfuss + Margarete Rebmann „what you see is what you get“ KISS, Schloss Untergröningen 2004

Niko Grindler – Fadenbilder

Auf Fragen eines Kritikers nach seiner berühmten Streifenserie aus den Jahren 1958 – 1965 antwortete Frank Stella: „Meine Malerei basiert darauf, dass nur das, was gesehen werden kann, auch da ist“ und weiter „Man sieht das, was man sieht“. In dieser Antwort, die banal und tautologisch erscheint, wird eine Kunstdefinition auf den Nenner gebracht, die eine Reihe von jungen amerikanischen Künstlern in Abgrenzung zur bisherigen Kunst in den 60er Jahren entwickelte. Ihnen ging es darum, die physische Wirklichkeit des Werkes hervorzuheben und jede Illusion zu eliminieren. Ihre künstlerischen Arbeiten sollten keinen Anlass mehr bieten, nach Bedeutung, symbolischen Bezugsrahmen und offensichtlicher Intention zu suchen. Diese Künstlergeneration bestand darauf, dass im Kunstwerk, sei es ein Bild oder eine Skulptur, nichts mehr verborgen sein solle an zu interprtierenden Geheimnissen. Ein Bild oder eine Skulptur sollten so beschaffen sein, dass in sie, in unserer Alltagssprache, nichts mehr hineingesehen oder hineingeheimnist werden könne. Was sagte Stella: „Man sieht das, was man sieht“. Die seit 1994 entwickelten Fadenbilder von Niko Grindler, forden den Betrachter zu genau dieser Wahrnehmungshaltung auf.
Und was ist zu sehen?
Es sind Bilder zu sehen, auf denen sich ein hochdifferenziertes lienargrafisches System entfaltet.
Bei der Mehrzahl der Arbeiten hat Niko Grindler mit vertikalen und horizontalen parallelen Linien gearbeitet, die sich teilweise überlagern und Gitter bilden. Die Linien verlaufen in der Regel von Bildrand zu Bildrand und parallel zu den Außenkanten. Selten wird die Diagonale einbezogen. Die Bildflächen sind mit gleichartigen, einheitlichen Formen gefüllt, die immer aus der Linie entstehen. Niko Grindler hat die Linie gewählt, die Zeichenkunst ihr Metier.
Aus der Linie heraus formen sich die grundlegenden, sich wiederholenden, auf neutrale Weise erzeugten Strukturen dieser Bilder. Ein Beispiel dafür ist ein Blatt , auf dem horzotale, braune auf weißem Papier verlaufende Linien eine die Vertikale betonende geometrische Struktur bilden. Eine partielle Verdichtung der horizontralen Linien lässt die Struktur visuell vertikal erscheinen.
Verdichtung und Entleerung sind zwei Verfahren, mit denen Niko Grindler subtil arbeitet, deren Wirkung sie immer wieder in neuen Varianten erprobt, so dass Serien entstehen, die den Charkter von Versuchsanordnungen annehmen. Exemplarisch stehen dafür drei Blätter, auf denen graue, mal dickere, mal dünnere, in engeren und weiteren Abständen und in Überlagerungen unterschiedlicher Nähe Linien die weiße Bildfäche überziehen.
An diesen Blättern wird auch offenkundig, dass die Art und Weise wie Niko Grindler zeichnet, spezielle Effekte ermöglicht, die gezielt eingesetzt werden können. Sie zeichnet nicht mit einem der üblichen Zeichenutensilien, zum Beispiel mit einem Graphitstift, sondern mit Nadel und Faden. Der Einstich der Nadel, die Leerstelle zwischen Einstichen, der zweimalige Gebrauch eines Einstichlochs sind Elemente, die die Zeichnungen zusätzlich zu anderen Elementen rythmisieren und strukturieren. Durch den Faden, einem weichen, dehnbaren Material, verlaufen die genähten Linien nie ganz gerade. Dazu trägt auch bei, dass eine längere durchgehende Linie nur durch das Aneinandersetzten kurzer Fadenabschnitte entstehen kann. Solche Linien weisen feine Einstiche auf, die einen Rythmus ergeben, der geplant sein, aber auch aus der Handbewegung kommen kann.
Besonders deutlich wird das bei den monochromen Weiß auf Weiß Zeichnungen, bei denen auch die Wirkung des Lichteinfalls auf das Material Faden am besten wahrgenommen werden kann. Die Fäden bleiben je nach Lichteinfall stumpf oder glänzen. Feinste Schatten entstehen. Licht und Faden gehen ein Spiel ein, das leicht vom Weiß abweichende Tönungen zu erzeugen vermag. Die zumeist minimal farblichen Kontraste lassen keine räumliche Bewertung zu. Die zurücktretende Farbe kann als Äquivalent zur Stille gesehen werden. Diese Wirkung tritt auch bei einer der ausgestellten großfor-matigen Zeichnungen ein, auf der in chromatischer Abfolge Quadrate in minimaler Farbdifferenz in ein lineares Rechteck eingefügt sind. Die Quadrate scheinen aus einem Hintergrund aufzutauchen, nach vorne zu drängen. Wir erkennen, dass sie diese Wirkungskraft haben, weil die Abfolge von einem mittleren, über einen hellen, zu einem dunklen Farbton und eine fortschreitende Wiederholung der wechselnden Farbtöne gleichzeitig ein Spiel einleitet, indem Vorder- und Hintergrund nicht mehr eindeutig definierbar sind.

Susanna Sackstetter, Auszug aus der Rede anlässlich der Ausstellung im Raum für Pflanzen, Kirchberg 2005

Niko Grindler hat seit Mitte der 90er Jahre ein vielschichtiges, auf linear-grafischen Strukturen
beruhendes zeichnerisches Werk entwickelt, das sich zwischen Minimal Art und Konkreter Kunst
bewegt. Sie arbeitet mit minimalen Farbkontrasten sowie überwiegend mit vertikalen und horizontalen parallelen Linien, die sich teilweise überlagern und Gitter bilden. Ihr einfaches, geometrisches Ordnungsprinzip führt sie in immer neuen Varianten aus, so dass Serien entstehen, die den Charakter von Versuchsanordnungen subtiler Differenzierung annehmen. Insbesondere durch Verdichtung und Entleerung von rasterartigen Strukturen gelingen Niko Grindler Modelle komplexer proportionaler und harmonischer Ordnung.
Die in Niko Grindlers Zeichnungen so wichtige Linie ist beinahe ausschließlich eine im Stickvorgang entstandene Fadenlinie. Sie verläuft wegen der Weichheit und Dehnbarkeit des Materials nie ganz gerade. Das erzeugt einen in der Schwebe gehaltenen Kontrast zur strengen Geometrie der Bildauffassung.Dazu tragen auch die Einstichstellen der Nadel sowie die Leestellen zwischen den Einstichen bei, die, ob geplant oder unmittelbar aus der Handbewegung gesetzt, zu fein nuancierten Abweichungen von der Regelmäßigkeit führen.
Hier tritt die für die Zeichnung typische Unmittelbarkeit in Erscheinung und suggeriert, bei aller eindeutig verfolgten konstruktiven Formgebung, Beiläufigkeit und Leichtigkeit. Neuerdings sind Arbeiten entstanden, in denen die Freizügigkeit des zeichnerischen Gestus und die Dialektik von
Ordnung und Unordnung stärker betont werden als bisher. Krähenfußartige Zeichen bewegen sich über geometrische Raster und die Kehrseite des grafischen Ordnungssystems der Fadenbilder wird erschlossen. Diese Arbeiten machen aufs Neue deutlich, dass nicht dem geometrischen System als solchem das Interesse von Niko Grindler gilt, sondern der geistigen Ordnung die hinter Symmetrie und Geometrie steht.

Susanna Sackstetter 2006

Helle Papierbögen sind Träger dieser empfindlich zarten Fadenzeichnungen. Jede Öffnung aber, durch die die oftmals haarfeinen Fäden zu einem geordneten Ganzen zusammenfinden, muss jedoch zuvor erst einmal gestochen werden. Sie sind die Koordinaten, die unter der Hand der Künstlerin zu einem ruhigen und dennoch rythmischen Miteinander von Bahnen, Flächen und Linien führen. In der zumeist hellen Schlichtheit verbergen sich bei näherem Hinsehen immer wieder auch feinste Farbnuacierungen – ein lichter Braun- und Ockerton, ein Elfenbeinweiß. Es sind leise und dabei immer wieder überraschende visuelle Attraktionen, die die Wahrnehmung der Betrachter herausfordert. Denn Fadenläufe und Einstichöffnungen eines Bildes können je nach Blickwinkel zu immer wieder neuen Eindrücken führen. Diese von Gleichklang und Variation bestimmten Arbeiten kommen zwar von der Natur, handeln aber nicht davon – geben sich im unterschiedlichen Lichteinfall ebenso veränderlich wie in der Wahr-nehmung jedes Einzelnen verschieden. Subtil und nuaciert zelebrieren die harmonischen Kompositio-nen Niko Grindlers eine ebenso beredte wie besinnliche Stille, die nicht nur das Auge, sondern auch die Emotion in Staunen versetzt.

Auszug aus der Rede anlässlich der Ausstellung GEDOK, im Rathaus Stuttgart 2007

Erlauben sie mir einige einführende Worte zur Ausstellung oder anders und ein wenig anmaßend formuliert: ich möchte Ihnen gern mitteilen was Sie sehen und wie Sie es sehen sollten.
Die Ausstellung versammelt 55 Bilder aus einem Zeitraum von 10 Jahren -die frühesten hier ausgestellten Werke sind aus dem Jahr 1999 (die Hängung erfolgte nicht zwingend in chronologischer Abfolge) – vorwiegend auf Papier, auch auf Leinwand, Plexiglas und Fotografie. Allen Arbeiten gemeinsam ist der Faden mit dem die Zeichnungen ausgeführt sind. Die Arbeiten auf Plexiglasscheiben zeigen sich schon dem ersten Blick als Objekte. Aber auch alle anderen Arbeiten haben eine dritte Dimension, sie sind verrräumlichte Zeichnungen, da der Faden erhaben auf dem Bildgrund sitzt und mal mehr oder weniger reliefartige Strukturen ausgebildet sind.
Es herrschen die einer strengen Geometrie verpflichteten Arbeiten vor, es überwiegt eine grafische Systematik: vertikale und horizontale Linien, daraus resultierend Rechtecke, Quadrate in komplexen Gitterstrukturen und dabei herrscht äußerste farbliche Zurückhaltung: leicht getöntes Papier oder wenig eingefärbte Fäden, die durch Verdichtungen oder Lichtungen hell/dunkel generieren. Es herrscht eine reduzierte, disziplinierte und ebenso versierte Formensprache vor. Immer ist es der Faden der die Zeichnung schafft, lediglich die Gründe variieren. Im Ergebnis lässt sich nicht von einem spezifisch-individuellen Duktus oder Gestus sprechen, sondern von Rhythmus und Kombinatorik, die präzisen Gespinste besitzen Kontur, als Notationen Textur.
Im Horizont der seriellen, reduzierten Monochromie der Arbeiten Niko Grindlers stehen einige herausragende Künstlerinnen der 1960er/1970er Jahre, die in einem vergleichbaren Geist gearbeitet haben.
Das Arbeiten mit Nadel und Faden ist zunächst eine typisch weibliche Beschäftigung, wiewohl das nicht durchgängig für die Kunst zu behaupten ist. Der Erfinder der „Foudrage“ ist ein Mann, Eduard Micus, in einem gänzlich anderen künstlerischen Kontext allerdings oder denken Sie an Aligherie Boetti oder Georg Herold – um nur zwei der bekannteren Künstler zu erwähnen, die auch Bilder gestickt oder genäht haben. Doch weniger auf die Materialität und Technik will ich hinaus als auf eine inhaltliche Relevanz.
Hanne Darboven entwickelt Ende der 1950er Jahre als Schülerin von Almir Mavignier in Hamburg – Mavignier ist hier im süddeutschen Raum bekannt, war er doch an der HFG in Ulm – eine grafische Technik der Kombination von Einstichen und Linien: sie arbeitete mit Millimeterpapier, setzte mit der Nadel auf dem Blatt verteilt Einstiche (so wie ihr Lehrer berühmt wurde mit „Nadeltupfen“ – er benutzte Nägel mit flachem Kopf, den er in Farbe tunkte und auf der Leinwand abdrückte, so dass die Farb-punkte eine „Spitze“ behielten) und verband diese mit Linien. Diese abstrakt-grafischen Reihungen wurden die Basis ihrer
konzeptuellen „Schreibblätter“ mit denen sie ab ca. 1965 bekannt wurde. Wie Niko Grindler blieb auch sie dem kleinen oder mittleren Format treu, obwohl sie mit ihren Schreibblättern Wand -und Raum füllende Installationen bewerkstelligte.
Eine weitere Künstlerin, die ich in diesem Kontext erwähnen möchte, ist die amerikanische Malerin Max Cole. Seit den frühen 1970er Jahren gründen deren Werke in einem bis heute kaum veränderten Arbeitsprinzip, aus dem sie ein in sich äußerst konsistentes Oeuvre geschaffen hat. Unter Verwendung des Spektrums der unbunten Farben Schwarz, Weiß, Grau und den farbigen Grautönen überzieht sie die meist querformatigen Bilder mit einem Muster aus Horizontalstreifen verschiedener Breite, dessen
pulsierende Rhythmik durchbrochen wird von einem Stakkato regelmäßig und eng gesetzter, vertikaler Haarstriche, die sich in schmalen Zeilen auf und unter die Streifen legen. Die daraus entstehende Textur gleitet gleichmäßig über die Bildoberfläche und hält dabei eine prekäre Balance zwischen monolithischer Strenge und verhalten vibrierender Unruhe.
Den Arbeiten Darbovens, Coles und Grindlers ist gemein, dass sich in ihnen das schaffende Subjekt äußerst zurücknimmt. Das Bestreben einer größtmöglichen Objektivierung in allen formalen Entscheidungen war auch den ZERO Künstlern ein Anliegen. Dadamaino – eine weitere Bezugsgröße zu den Arbeiten von Niko Grindler –war eine der bedeutendsten Vertreterinnen der italienischen Nachkriegskunst. Sie ist um 1960 im Kreis der internationalen Zero-Avantgarde bekannt geworden. Zunächst bedeckt sie malerisch die Leinwand mit einem Geflecht horizontaler und vertikaler Linien, die perpendikular aufeinander stoßen und vollzieht – später dann mit der Reißfeder – eine Reduktion auf Rechtwinkligkeit, die aber durch die Imperfektion des Zeichnens gekennzeichnet ist, welches auftaucht und sich wieder verbirgt und nicht durchgängig sichtbar ist. Für Ihre Arbeit prägt sie den Begriff des „rational Unbewussten“ – in etwa dem surrealistischen Begriff der „ècriture automatique“ entsprechend – und verzichtet damit auf die analytischen und rationalistischen Kriterien, von denen ihr Werk bis zu diesem Zeitpunkt bestimmt war, um neue, individualistischere Komponenten mit einzubeziehen, die irrationalen oder unbewussten Kriterien entsprechen.
All die genannten Beispiele verzichten auf den Schein und die Illusion eines Abbilds oder einer Vergegenständlichung oder um Dadamaino zu zitieren, die in der Reduktion auf der Suche war nach einer „Art Tiefe…, die nicht perspektivisch, sondern in der Fläche zum Vorschein kommen sollte.“ Aufgrund der Reduktion der Farbskala, der Konzentration auf die Vertikale und Horizontale in der Gesamtanlage und der Stringenz in der seriellen und kontinuierlichen Verfolgung dieses Themas werden solche Arbeiten gerne im Zusammenhang mit Tendenzen des Postkonstruktivismus, Postminimalismus und der Konkreten Kunst erwähnt. Aber gerade hinsichtlich der jeweils individuellen Haltung greifen solche Zuschreibungen oft zu kurz. Der für Max Cole so wichtige Begriff der Arbeit, der für ihr Werk einen existentiellen Anteil am Inhalt besitzt – wie sie ihr selbst erklärtes Ziel beschreibt als „Verfolgung der Erkenntnis der Einsamkeit“ – taucht in solcher Kategorisierung nicht auf. Ebenso wenig die Ausbildung konkret an der Schrift und Text orientierten ‘Schreibblätter’ Darbovens oder Dadamainos auf wohl Geistiges sich stützende individuelle Technik des rational Unbewussten.
So viel steht fest, dass sich all diese Arbeiten in ihrem Bestreben zu abstrahieren, in der Anstrengung um Objektivierung und Reduktion auf das schwarze bzw. weisse Quadrat von Kasimir Malewitsch, die er um 1910 in eine Ausstellung mit klassischen Ikonen platzierte, ihren Ausgangspunkt hat.
Der Besuch und die Wahrnehmung einer Ausstellung wie die von Niko Grindler ist auf der einen Seite einfach und dabei andererseits auch besonders schwierig. Einfach, da es wohl unbestritten ist, diese Arbeiten in ihrer überwältigenden Ästhetik als besondere Kunstwerke anzuerkennen. Schwierig aber ist es nach dem vierten oder fünften Bild sich nicht zu begnügen das Prinzip oder die „Masche“ der Künstlerin begriffen zu haben. Es ist Mühe und Arbeit jedem einzelnen Bild gerecht zu werden. Erlauben Sie mir das mit einem Beispiel aus einem ganz anderen Kontext an dieser Stelle zu belegen. Vor etwa drei Jahren hatte ich die eher zufällige Gelegenheit, in Tokio ein kleineres kunsthistorisches Museum zu besuchen. Ausgestellt waren Teeschalen in immer
gleichen, Wand füllenden Vitrinen. In jeder Vitrine auf immer gleichen Sockeln jeweils nur eine historisch wertvolle Teetasse, reihum, sehr viele an der Zahl. Nach wenigen Exponaten defilierte ich eilig an drei Vitrinen entlang, sah für mich doch alles gleich aus. Nicht so japanischen Besuchern, die sich jeder Tasse, jeder Nuance des Unterschieds aufmerksam widmeten. Die asiatische Wahrnehmung ist hier anders als unsere westliche und auch der Werkbegriff, wenn sich ein Kalligraph sein ganzes Leben nur wenigen Zeichen widmet. Die Qualität der Produkion ist eine der Versenkung und der Reflexion – so in gewisser Weise auch hier.
Ob für Niko Grindler der Arbeitsprozess diese existentielle Aufladung erfährt wie das für Max Cole gilt, oder wie bei Dadamaino Werkzeug und Material es vermögen, eine sowohl individuelle wie automatische Handschrift zu generieren oder wie Darboven, die konsequente Arbeit an großen Serien zur Obsession wird, darüber kann ich nur spekulieren. Man muss dazu die Künstlerin selbst befragen. Die Grundlage für diese Fragen, darin läge der Wert meiner Einführung, habe ich versucht für Sie einzufädeln, wenn Sie mir das Bild in diesem Kontext erlauben. Für die Ausstellung und die gezeigten Arbeiten gilt, dass sich hier nicht allein Bild an Bild reiht, sondern sich vielmehr ein Gesamtbild einstellt, das von einer überzeugenden künstlerischen Haltung zeugt.

Christian Gögger Rede zur Ausstellung, Stifung pro arte, Biberach 2009

Gedanken zum Werk von Niko Grindler

Ausgangspunkt der Fadenzeichnungen von Niko Grindler ist die Natur: Studien und Fotografien von Landschaften, Wiesen, Feldern, Äckern. Deren Verläufe und Strukturen begann sie in Stickereien umzusetzen. Stich für Stich ergaben sich Bewegungen und Richtungen, wie von selbst, im Fluss der Ordnung und wider die Ordnung.
Sie führte ihre gestickten Wirbel in Raster über, gab ihnen klare, strenge Rhythmen. Jeder Stich, jeder Strich, gleiche Länge, gleicher Abstand. Und doch: Die Muster: nie starr und pedantisch. Sie atmen weiter, behalten die feine Schönheit des Zufälligen, getragen von den kleinen Fadenstücken, die bei aller Strenge der Vorgabe, von Loch zu Loch, ihr eigenes Leben, ihre kleine Bewegung bewahren, ihr Schimmern im Wandel des Lichts: Diese kleine Freiheit, die sich auch von der Künstlerin, nicht fassen lässt.
„Das Leben eines Werks ist nicht kalkulierbar“, sagt Niko Grindler, auch wenn es das Ergebnis intensiver Studien ist. Die Künstlerin bereitet ihre Arbeiten in sorgsam geführten Skizzenbüchern vor, experimentiert, spielt, entwirft und verwirft.
Ihre Erfahrungen setzt sie dann behutsam in größerem Format um, achtet darauf, dass sich die Inszenierung nicht in den Vordergrund drängt, Einfälle nicht die Zufälle überschütten. Mit Strenge und Zurückhaltung gestaltet die Künstlerin ihre Fadenbilder, greift manchmal mit nur kleinen Gesten und Veränderungen ein. Mit wenigen Diagonalen in einem Vertikal-Horizontal-Netz eröffnet sie kaum spürbare Räume. Fadenraster legt sie eins ums andere übereinander bis ein vibrierend rhythmisches Gewebe entsteht oder legt einen Vorhang aus gestickten Strichen über Fotografien von wandernden Schatten.
„Es kommt darauf an, dass das Werk schwingt, klingt wie Musik“, meint Niko Grindler. Und manchmal, da findet sie ihn auf der Rückseite eines ihrer bestickten Kartons, hinten, wo der Zufall regiert, unversehens, in der Unordnung, den Klang, den sie vorn nicht finden konnte.
Die sonderbare Schönheit in der Begegnung von Ordnung und Zufall.

Dr. Tobias Wall 2013

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich freue mich, ein paar einführende Worte zu dieser Ausstellung mit Werken von Sabine K Braun und Niko Grindler sprechen zu dürfen.
Ich halte das Zusammentreffen dieser beiden Positionen hier in den Räumen des Eislinger Kunstvereins für eine besonders geglückte Begegnung. Wir sehen die Werke zweier Künstlerinnen, die in ganz unterschiedlicher Weise mit graphischen Strukturen und Konstruktionen im Raum umgehen und deren Werke sich gegenseitig, wie ich finde, vortrefflich ergänzen und bereichern.
„Mein Werk ist eine Gradwanderung“ sagt Niko Grindler. Wir hatten uns zusammen mit Sabine K Braun in ihrem Atelier in der Stuttgarter Reitzensteinstraße getroffen, um uns über die Ausstellung und die Werke zu unterhalten, die gezeigt werden sollten.
Eine Gradwanderung, weil man als Künstlerin, die mit Nadel und Faden zeichnet, immer Gefahr läuft, ein gängiges weibliches Klischee zu bedienen, nämlich das des geduldig vor sich hin nähenden und damit über ihrer Arbeit verstummenden bürgerlichen Frauchens. Selbstgenügsam, fleißig, brav.
Seit den 90er Jahren tauchen in der zeitgenössischen Kunst verstärkt Faden und Textilarbeiten auf, die von Daniele Buetti bis zu Josephine Meckseper, die mehr oder weniger mit diesem bürgerlichen Klischee spielen. Doch obwohl es als komplexes vielfach reflektiertes Ausdruckmedium längst etabliert scheint, gibt es nach wie vor die Sorge als nähende Künstlerin in eine überholte, verhaßte Rolle geschupst zu werden.
„Sprechen Sie bei Nikos Arbeit doch nicht von Stickereien“, sagt Sabine K Braun mit beinah erhobener Stimme als wir uns vorgestern hier in der Ausstellung trafen. Es war ihr ein echtes Bedürfnis, ihre Kollegin vor der allzu leichtfertigen Zuge eines übereifrigen Kunstwissenschaftlers in Schutz nehmen.
In der Tat: Niko Grindler bevorzugt die eine neutrale, technische Bezeichung für ihr Werk, sie spricht von Fadenzeichnungen. „Ich bin eine nüchterne Frau“ sagt die Künstlerin von sich und auch ihr Werk möchte sie bei aller Feinheit und poetischen Wirkung von jeglichen Sentimentalitäten frei halten.
Es ist vielleicht vier Wochen her: Ich hatte Niko Grindler gerade meinen Textentwurf für ihren Katalog zukommen lassen und wortreich versucht, die Wirkung ihrer wunderbar rhytmisierten Zeichnungen von wogenden Getreidefeldern herzuleiten. Immerhin standen ja Landschaftsfotografien am Anfang dieses Werkkomplexes. Die höfliche Frau Grindler rang am Telefon hörbar um Worte: Nein, Herr Wall, Natursentiment ist nicht der Quell meines Schaffens. Hier geht es um die Auseinandersetzung mit rein künstlerischen, Konkreten, zeichnerischen Fragestellungen. Das Verhältnis von Fläche, Form und Linie, von Statik und Dynamik, von Konstruktion und Zufall von Zeichnung und Raum.
Natürlich hatte sie recht, ich war auf der Suche nach einem schönen Plot schon wieder über den Grad gestolpert, auf dem Sie mit ihrem Werk wandert.
Also nahm ich meinen Radiergummi und rubbelte meine schwülstigsten Stellen wieder raus aus dem Text und mit dem, was übrig blieb, konnte Niko Grindler dann, wie sie sagte, leben. Damit kann ich wagen, diese meine Gedanken zu ihrer Arbeit nun hier vorzulesen:
Ausgangspunkt der Fadenzeichnungen von Niko Grindler ist die Natur: Studien und Fotografien von Landschaften, Wiesen, Feldern, Äckern. Deren Verläufe und Strukturen begann sie in Stickereien umzusetzen. Stich für Stich ergaben sich Bewegungen und Richtungen, wie von selbst, im Fluss der Ordnung und wider die Ordnung.
Sie führte ihre gestickten Wirbel in Raster über, gab ihnen klare, strenge Rhythmen. Jeder Stich, jeder Strich, gleiche Länge, gleicher Abstand. Und doch: Die Muster: nie starr und pedantisch. Sie atmen weiter, behalten die feine Schönheit des Zufälligen, getragen von den kleinen Fadenstücken, die bei aller Strenge der Vorgabe, von Loch zu Loch, ihr eigenes Leben, ihre kleine Bewegung bewahren, ihr Schimmern im Wandel des Lichts: Diese kleine Freiheit, die sich auch von der Künstlerin, nicht fassen lässt.
„Das Leben eines Werks ist nicht kalkulierbar“, sagt Niko Grindler, auch wenn es das Ergebnis intensiver Studien ist. Die Künstlerin bereitet ihre Arbeiten in sorgsam geführten Skizzenbüchern vor, experimentiert, spielt, entwirft und verwirft.
Ihre Erfahrungen setzt sie dann behutsam in größerem Format um, achtet darauf, dass sich die Inszenierung nicht in den Vordergrund drängt, Einfälle nicht die Zufälle überschütten. Mit Strenge und Zurückhaltung gestaltet die Künstlerin ihre Fadenbilder, greift manchmal mit nur kleinen Gesten und Veränderungen ein. Mit wenigen Diagonalen in einem Vertikal-Horizontal-Netz eröffnet sie kaum spürbare Räume. Fadenraster legt sie eins ums andere übereinander bis ein vibrierend rhythmisches Gewebe entsteht oder legt einen Vorhang aus gestickten Strichen über Fotografien von wandernden Schatten.
„Es kommt darauf an, dass das Werk schwingt, klingt wie Musik“, meint Niko Grindler. Und manchmal, da findet sie ihn auf der Rückseite eines ihrer bestickten Kartons, hinten, wo der Zufall regiert, unversehens, in der Unordnung, den Klang, den sie vorn nicht finden konnte.“
Soweit mein Text.
Wenn Sie durch die Ausstellung gehen, werden Sie eine Reihe von Arbeiten finden, die in diesen Zeilen angedeutet werden, die Skizzenbücher, die Rasterbilder, die Fotografien und nicht zuletzt die „Zufallsbilder“, bei denen die Rückseite eines Fadenbildes als das eigentlich gemeinte Werk entpuppte.
Was in diesem Text nicht erwähnt wird, was jedoch für diese Ausstellung zentral ist, ist die Bedeutung des Raums und des Lichts für ihr Werk. Im Grunde sind ja die meisten ihrer Arbeiten streng genommen gar keine Zeichnungen, sondern vielmehr Mikroreliefs, dadurch dass sich die Fäden, wenn auch nur ein wenig vom Untergrund des Papiers abheben. Dieser Reliefcharakter ist für die Wirkung ihrer Werke sogar entscheidend, denn die Fäden verursachen kleine Schatten, die je nach Lichteinfall und Lichtqualität das Werk bzw. seine Binnenstruktur verdoppeln, was zu faszinierenden Überlagerungen und Parallelklängen führt. Bei manchen Arbeiten unterstreicht die Künstlerin diesen Reliefcharakter, in dem sie z.B. mehrfarbige Fadenbilder mit weißer lasierender Farbe übermalt, was zu einem feinen Flirren von Schattierungen, Höhungen und Farbahnungen führt.
Am plastischsten, im buchstäblichen Sinne aber wird das Spiel mit dem Raum aus Licht- und Schatten Räumlichkeit bei Niko Grindlers mehrschichtigen Plexiglasbildern. Sie montiert Glasscheiben mit Fadenzeichnungen mit Abstand an die Wand, teilweise zwei über einander und lässt durch gezielte Beleuchtung komplexes Schattenspiel auf den Untergrund entstehen.
Schattierung, Plastizität und damit Räumlichkeit führt uns die Künstlerin auch bei der Werkreihe an der linken Wand vor. Hier formuliert sie mit wie zufällig über das Blatt verteilen gestickten L-und V Häckchen Kreisformen oder andere Rundungen und verleiht ihnen durch die gezielte Variation der Fadendicke eine fast pulsierende räumliche Wirkung.
Eine dieser Arbeiten ist auf der Einladungskarte zu dieser Ausstellung abgebildet. Sie wird sinnigerweise einer vergleichbar dimensionierten Abbildung einer Raumarbeit von Sabine K Braun gegenübergestellt. Diese kluge Kombination macht sofort sichtbar, dass beide Künstlerinnen sich mit linearen, graphischen Stukturen im Raum beschäftigen, doch der Weg, den Sabine K Braun beschreitet, unterscheidet sich doch sehr von dem Niko Grindlers.
Beginnen wir mit der außergewöhnlichen Technik der Künstlerin: Sie arbeitet modular d.h. entwickelt ihre Objekte und Installationen aus kleinen handgefertigten Grundmodulen. Diese entstehen aus einem speziellen, widerstandsfähigen Packpapier, dass sie einschneidet, faltet und präzise zu röhrchenförmigen Basiseinheiten zusammen klebt. Sabine K Braun ist es wichtig zu unterstreichen, dass ihre Werke in zeitintensiver Handarbeit und nicht aus vorgefertigten Baumarkt-Materialen entstehen. Gerade der Materialcharakter des Papiers, der Subtext, den es transportiert, sei für die Wirkung ihrer Werke zentral: seine Zerbrechlichkeit aber auch Flexibilität und Zartheit.
Es mag zunächst als schöpferische Einschränkung erscheinen, sich auf diese modulare Arbeitsweise einzulassen aber schon der ersten Blick in die Ausstellung zeigt, wie vielfältig und facettenreich das Schaffen von Sabine K Braun ist. Man sieht Werke von sehr unterschiedlicher Erscheinung, Dimension und Struktur, von schwebenden Gespinsten bis hin zu organischen kompakten Objekten. Bemerkenswert für mich ist die besondere Raumwirkung, die diese Arbeiten ganz unabhängig von ihrer individuellen Erscheinung entwickeln.
Mir kommt es so vor, als ob die Arbeiten von Sabine K Brauns nicht einfach im Raum hängen, sondern vielmehr als ob sie eine eigene Räumlichkeit im Kontinuum des Ausstellungsraums entfalten: Quasi Räume im Raum mit eigenen, unabhängigen Gesetzmäßigkeiten.
Um dieses Eigenleben der Raumarbeiten von Sabine K Braun zu fassen, half mir eine bemerkenswerte Analogie, die die Künstlerin in unserem Gespräch für ihr Werk verwendete: Sie beschrieb den Charakter ihrer Raumgebilde als Sprache. D.h. als etwas, das trotz der Präzision und Konzentration in der Ausführung kein klar kalkulierbares Konstrukt ist, sondern ein selbständig sich entwickelndes, organisches Gebilde. Und wie eine Sprache, eine ungewohnte oder auch unbekannte Sprache einen eigenen freien Bedeutungsraum entwickelt, mit eigener Struktur, überraschenden Vernetzungen, vor allem aber mit eigenem Klang, so entfalten auch Sabine K Brauns Arbeiten freie, unabhängige Räumlichkeiten und Bewegungen im Ausstellungsort: konstruktive Raumstörungen, könnte man sagen, Raummodulationen, als ob die Werke den Raum an bestimmten Stellen zum Schwingen, zum Tanzen bringt.
Die Dynamik ihres Werks wird in ganz anderer Weise in ihren Raumwirbeln sichtbar, die sie in kleinerer Ausführung hier und großer in einem der Kabinette betrachten können: es ist schlichtweg spektakulär, wie die Künstlerin hier durch das Zusammenfügen unzähliger statischer Kleinsteinheiten Gebilde von rasanter, implosiver Bewegtheit entstehen lässt. Es ist, als ob eine komplexe, filigrane Architektur von einem Strudel verschlungen wird. Mir kamen aber auch bei diesen Arbeiten wieder spontan Tanzassoziationen: ich dachte an eine Simultansituation vieler gleichzeitig tanzender Derwische mit wallenden Gewändern. Nun gut, die Gedanken sind frei.
Wie sie schon bemerkt haben, fügt Sabine Braun ihre Papiermodule aber auch zu statischeren, kompakteren Gebilden zusammen, die sie „zellulare Hybride“, „Rasterkugeln“ oder auch „Rasterschaum“ nennt. Hier ist das Prinzip der Konstruktion, die Ausrichtung an geometrischen Grundformen und Strukturen deutlicher. Manche dieser Arbeiten wirken wie Details von Architekturmodellen, andere hingegen kommen mir vor wie Vergrößerungen von Mikrogoranismen oder zellularen Gebilden, die die Künstlerin im Raum schweben läßt, wie Phänomene aus einer anderen Welt mit schönen, fremden Gesetzen.
Im Raum ganz hinten rechts finden Sie eine, wie ich finde ungewöhnliche Arbeit: eine großformatige Fotografie, auf der die Künstlerin in die Innenwelt ihrer Konstruktionen blicken läßt. Ich finde es erstaunlich, wie sie hier Medium der Fotografie, die Dynamik und Rhythmik ihrer organisch modularen Konstruktionen vorführt und ein geradezu monumentales Raumerlebnis inszeniert.
Doch gleich daneben in der Vitrine, kommt ihr Werk wieder zur Ruhe, dort hat sie gleich neben die feinen Skizzenbücher von Niko Grindler Objekte gelegt, die die schlichte Form eines Eis haben. Wie der Ursprung, der ruhende Ausgangspunkt all der bewegten, künstlichen, künstlerischen Kreaturen, die sie in den Raum entlässt.
Ja, eine Gradwanderung ist diese Ausstellung, eine schöne, erfüllende Wanderung. Allerdings keineswegs nur zwischen Kunst- und Genderfragen. Es ist eine Gradwanderung zwischen Faden und Papier, zwischen Zeichnung und Skulptur, Fläche und Raum, Licht und Schatten und nicht zuletzt eine Gradwanderung für mich als Kunstkritiker der mal wider erfahren durfte, dass Schönheit in der Kunst weniger mit Sentiment als mit wacher Konzentration und inspirierter Nüchternheit zu tun hat.
Von Stickerei und wogenden Getreidefeldern werde ich im Rahmen künstlerischer Betrachtung auf jeden Fall nie wieder reden.
Versprochen, meine Damen.

Eröffnungsrede: Faden-Papier Niko Grindler + Sabine K Braun 6. Juni 2013

Niko Grindler
Faden-Zeichnungen
Kulturkreis Leinfelden-Echterdingen, Galerie Altes Rathaus Musberg 14.09. – 20.10.2019
Eröffnung: Samstag, 14. September 2019, 17.00 Uhr
In den Bildarbeiten der in Stuttgart lebenden Niko Grindler spielt die Linie die herausragende Rolle. Mit noch größerer Berechtigung als bei anderen Künstlerinnen und Künstlern üblich kann angesichts ihrer Faden-Zeichnungen, die in der aktuellen Ausstellung präsentiert werden und einen Entstehungszeitraum von gut 20 Jahren umfassen, ganz bewusst von der Linie im Singular gesprochen werden. Von der einen Linie nämlich, die zunächst auf der Oberfläche des Papiers erscheint, anschließend in die Koordinaten eines von der Künstlerin entworfenen perforierten Rastersystems eintaucht, und dann dahinter im Untergrund (hinter der Oberfläche und damit dem sie Betrachtenden zwangsläufig verborgen) ein unsichtbares Eigenleben weiterführt. Dort – irgendwo dahinten, auf der anderen Seite des Sichtbaren – feiert sie (die Linie) fröhliche Urständ, bevor sie sogleich – von der Urheberin des entstehenden Werkes kontrolliert in die vorgegebenen Bahnen gelenkt – erneut zum Vorschein kommt, um bald darauf auch schon wieder im bzw. unter dem Papiergrund zu verschwinden.
Kann man jene Papierareale – sozusagen Felder, die ständig neu bemessen werden – bei Niko Grindler also überhaupt noch „Bildträger“ nennen? Müsste das Papier – an anderer Stelle verwendet unsere Künstlerin auch Leinwände, Fotografien, Plexiglas und anderes mehr – nicht vielmehr als „Bildhalter“ (Linienhalter) für die Fäden apostrophiert werden? Jene Linie verbindet sich schließlich nicht eigentlich mit dem Papier, bezeichnet das Papier nirgendwo unmittelbar, geschieht allerhöchstens als eine leichte Berührung oder folgt geschmeidig dem graphitenen Strich. Sie steht erhaben – wennauch geringfügig – über dem Papier. Zwischen zwei Punkten (Einstichstellen) wird sie gehalten, gerät zum haptisch erfahrbaren Relief, sofern wir es je berühren dürften, was aber aus gutem Grund verboten ist. Und unter sich verändernder Lichteinstrahlung und dem Standpunkt des Betrachters zeigt der Linienfaden – resp. die Fadenlinie – so auch immer wechselhafte Schattenbildungen.
Bei Arbeiten anderer Zeichnerinnen und Zeichner erweisen sich die Anfangs- und Endpunkte der gezogenen Linien in der Regel exakt bestimmbar, Farbe und Stärke verwendeter Stifte variieren bei denselben frei. Der Druck der Hand charakterisiert da die Qualität des Strichs, das langsam vorsichtig sich Herantasten ebenso wie das impulsiv Ausfahrende, die schier beliebige Verdichtung und Auflösung des Lineamentes. Die Faden-Zeichnungen Niko Grindlers folgen dagegen völlig eigenen Gesetzen.
In den Arbeiten unserer Künstlerin sind die Linienstärken und ihr Verlauf demnach zunächst strikt vorgegeben und hängen davon ab, wie viele Faserstränge eines Spaltgarnes sie in welcher Farbe dafür verwendet. Die meditativ versunkene Linienführung selbst unterliegt dabei der Spannung, die die Lochkoordinaten im Papier aushalten, ohne einzureißen, und wie straff der Faden gezogen sein muss/darf, um eine definierte Linie – und nicht etwa nur ein willkürlich schlaffes Geschlängel und Gefransel – abzubilden.
Die so durch spezifische Materialeigenschaften und einzuhaltende Vorgehensweisen vorbestimmten Rahmenbedingungen haben Niko Grindlers Arbeiten daher immer wieder ins Umfeld der Konkreten Kunst gerückt (so sind Werke der Künstlerin auch in der Sammlung Ritter in Waldenbuch, der Daimler Art Collection und anderswo vertreten). Indem sich ihre Kompositionen – mit den ihnen eigenen leichten Abwei-chungen in der Lineatur – gegen jedwede soldatisch getrimmten Strichkommandos und mathematischen Formelhaftigkeiten aufzubegehren wissen, behaupten sie aber die selbstsinnige Poesie des gewissermaßen von einer Arbeit zur nächsten übersprin-genden Fadens und eines – im simultanen Davor und Dahinter dieses Ideengewebes – so flüchtigen Linienraumes als eines Denkraums des verschieden Möglichen.
Folgen in einem Fall die Fadenlinien Niko Grindlers nämlich exakt einem – teilweise mit Graphit vorgezeichneten – orthogonalen Raster, bestimmt vorrangig der grafische Charakter die entsprechende Arbeit. Still konzentrierte Reihungen in gleich wiederkehrenden oder doch nur geringfügig modifizierten Rhythmen strukturieren da die Darstellungsebene. Vereinzelte grundsätzliche Abweichungen davon – etwa in die Diagonale, aufsteigend oder aber fallend – erzeugen kontrapunktisch perspektivische Irritationen, bevor sich die Linie wieder in den vorgedachten Lauf der Dinge einfügt, Notationen einer bach’schen Fuge gleich.
Schmiegen sich dagegen die Garngeraden eng aneinander oder vergeschwistern sich mit den benachbarten Vertikalen des Graphits, verflicht sich das Lineament in delikat schimmernden Farbigkeiten hinüber ins stofflich Malerische. Mindestens aus einigem Abstand betrachtet verschmelzen dann Faden und Papier, Faden und Leinwand zu einer schier unauflösbaren Einheit in der Fläche und können optisch erst in unmittelbarer Nahsicht wieder voneinander geschieden werden. Umgekehrt mögen wir uns auch den neuen grindler’schen Graphitstiftzeichnungen zuwenden, um unversehens feststellen zu müssen, dass diese – völlig unerwartet – doch tatsächlich ganz ohne Fäden ausgekommen sind. Immer wieder gilt es also zu überprüfen, ob wir den eigenen Augen trauen können oder nicht, das Wirkliche auch wirklich wirklich ist, oder ob wir schlicht den vorliegenden Raumillusionen dieser Werke erliegen.
Vollends heben sich die ansonsten so absolut gesehenen medialen Grenzen auf, wenn Niko Grindler Foto-Ausdrucke mit Fadenzeichnungen zusammen kombiniert. Das weich Flauschige der textilen Linie verbündet sich nachgerade mit den pulvrig vibrierenden Oberflächen der Licht-Schatten-Bildungen: das hell flirrende Garn das Licht, das wiederum seine Schatten wirft – das fotografische Dunkel, das dieses Licht jedoch erst scheinen macht.
Und als sei dies alles nicht genug, führt uns Niko Grindler sogar geradewegs in die Unterwelt der Linie ein. Denn kurzerhand erklärt die Künstlerin ebenso auch Rückseiten, die dem Betrachterblick gewöhnlich vorenthalten bleiben, für durch und durch bildwürdig. Das recto kontrollierte Raster des gestickten Lineaments probt auf der Rückseite verso mithin den Aufstand gegen das System. (Neuerdings haben sich allerdings auch verboten-verbetene Knoten spitzbübisch auf die Vorderseite so mancher Arbeit absichtsvoll verirrt.) Das vermeintliche Chaos wendet sich gegen die vorgegebene Ordnung, zufällige Funde gegen das bewusste Suchen, ein atonales Glück und ein unvermutetes Gelingen, das wie von selbst zum Vorschein kommt.
Zuguterletzt entledigen sich selbst noch die Einstichlöcher ihrer anfangs zugedachten Funktion. Ohne Fäden aufnehmen und halten zu müssen, sind sie unversehens dicht an dicht nebeneinandergesetzt und lassen durch die dieserart vorgenommene Defor-mierung des Papiers neue Formen entstehen. Modellartigen Landschaftsreliefs mondischer Gegenden nicht unähnlich bilden sich Inseln im amorphen Liniennetz, die Sticheleien aber vollends allover der gesamten Papierfläche zugefügt, wölkt sich die durchlässig gewordene Papierhaut – den typischen Eigenschaften dieses Werkstoffes zur Gänze widersprechend – mit einer erstaunlichen Körperlichkeit und Fragilität zugleich dem Betrachter unwirklich entgegen.
Unwillkürlich ist man da versucht, an Robert Musils so komplexes Romanfragment Der Mann ohne Eigenschaften zu denken, an dem dieser seit dem Jahr 1923 gearbei-tet hat, und in dem der Schriftsteller dem Wirklichkeitssinn einen – wie er es nennt – Möglichkeitssinn gleichwertig gegenüberstellt. „Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, […] dann muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen; und wenn man ihm vor irgend etwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeits-sinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“
Hat nun aber Musils Hauptfigur Ulrich „drei Versuche, ein bedeutender Mann zu werden“ – wie es im Roman verlautet –, schafft es Niko Grindler bereits im ersten Versuch auf überzeugende Art und Weise, uns allen klar-zumachen, dass sie eine bedeutende Künstlerin ist, indem sie nämlich mit ihren wunderbaren Arbeiten unsere Wirklichkeitssinne und unsere Möglichkeitssinne gleichermaßen zu schärfen versteht.
Clemens Ottnad